Warum kulturelle und religiöse Sensibilität in der Therapie wirklich entscheidend ist

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Warum kulturelle und religiöse Sensibilität in der Therapie wirklich entscheidend ist

(Blogbeitrag von Levent Yükcü, Mitbegründer von TADAVI)

Therapie bedeutet, einem Menschen mit seinem Schmerz, seiner Geschichte und seiner Hoffnung zu begegnen.
Doch diese Begegnung gelingt nur, wenn auch das verstanden wird, was den Menschen im Innersten trägt – sein Glaube, seine Werte, seine kulturelle Identität.

Gerade muslimische Klientinnen und Klienten erleben immer wieder, dass ihre tiefsten Überzeugungen in der Therapie kaum Raum finden – oder sogar missverstanden werden. Das führt nicht selten dazu, dass sie sich zurückziehen, obwohl sie eigentlich Hilfe suchen.

Ich möchte hier drei Beispiele aus meiner Erfahrung teilen, die zeigen, warum kulturelle und religiöse Sensibilität in der Psychotherapie keine Nebensache ist – sondern entscheidend.

Ein junger, unverheirateter Mann, 32 Jahre alt, ein Hafiz, hatte Jahre seines Lebens geopfert, um den gesamten Koran auswendig zu lernen.
Er war gebildet, religiös, feinfühlig – und gleichzeitig stark belastet.
Seit Jahren kämpfte er mit Zwangsgedanken und rituellen Waschzwängen, fühlte sich innerlich gefangen.
Als er sich endlich überwunden hatte, einen Therapeuten aufzusuchen, hoffte er auf Verständnis und Begleitung.
Doch der Therapeut sagte zu ihm, er solle sich „endlich öffnen, befreien“, seine „unterdrückten sexuellen Bedürfnisse“ erkunden und vielleicht einmal Erfahrungen sammeln, da er bisher „zu keusch gelebt“ habe.
Der Hafiz verließ die Praxis verwirrt und verletzt.
Sein Glaube, der für ihn Halt und Orientierung war, wurde als Ursache seiner Symptome gedeutet – anstatt als Teil seiner Lebensrealität verstanden zu werden.

Was hätte dieser Mensch gebraucht?
Nicht eine Aufforderung, seine Werte zu brechen, sondern eine Begleitung, die versteht, wie spirituelle Reinheit, Scham, Schuld und Zwang in einem gläubigen Herzen miteinander verwoben sein können.

Ein anderes Beispiel, das ich mitbekam, war ein muslimisches Ehepaar, das Hilfe suchte, weil seine Ehe in einer Krise steckte.
Nach vielen Jahren der Überzeugungsarbeit hatte die Frau ihren Mann endlich dazu bewegen können, eine Paartherapie zu beginnen.
Sie wollten lernen, besser miteinander zu kommunizieren, Grenzen zu verstehen, Vertrauen aufzubauen. Es kriselte an allen Ecken der Beziehung, die Streitigkeiten wurden täglich weitergeführt.
Um die Anfahrtswege kurz zu halten und sofort mit der Paartherapie zu beginnen, suchten sie einen Therapeuten in der Nähe auf.
Doch schon nach wenigen Sitzungen riet der Paartherapeut beiden, „auch einmal andere Partner kennenzulernen, um zu spüren, was ihnen fehlt“.
Was hier als moderner, offener Ansatz gedacht war, traf die beiden tief.
Obwohl sie sich seit Jahren stritten, war für sie die Ehe trotzdem ein heiliger Bund. Der Streit entfachte erneut, und der Mann verließ die Praxis.
Die Frau kam anschließend zu mir, enttäuscht und verunsichert, und sagte:
„Ich wollte unsere Ehe retten – nicht aufgeben.“

Es zeigt sich wieder, wie sehr Werte und Glaube das Fundament einer Beziehung sind – und wie wichtig es ist, dass eine Therapie dieses Fundament nicht untergräbt, sondern stärkt.

In einem weiteren Beispiel erzählte mir ein junger Mann seine Erfahrung mit einer Psychologin. Er trauerte um seinen Bruder, der früh verstorben war.
Er litt unter depressiven Symptomen und suchte psychologische Hilfe.
Doch die ältere Psychologin sagte:
„Wir können uns nur auf uns selbst verlassen. Wenn Gott wirklich existierte, würden keine Kinder sterben. Auch mein Kind ist gestorben – das zeigt, dass es Gott nicht gibt.“
Statt Trost und Orientierung erlebte der junge Mann noch mehr Glaubenszweifel und Vertrauensverlust.

Ein wirklich sensibler Psychologe, der sich mit Therapie für Muslime auskennt, hätte Raum für seine Trauer geöffnet, seinen Glauben ernst genommen und eine Verbindung von spiritueller Begleitung und psychologischer Hilfe geschaffen – ohne Schuld, ohne Verurteilung.

Diese drei Beispiele zeigen, wie schmerzhaft es sein kann, wenn religiöse und kulturelle Realitäten in der Psychotherapie übersehen oder falsch interpretiert werden.
Bei diesen Beispielen geht es mir nicht um Schuldzuweisungen gegen die Psychologen – viele von ihnen meinen es gut, aber sie kennen die inneren Welten ihrer muslimischen Klient:innen nicht ausreichend.

Diese und weitere Erfahrungen aus meiner eigenen Praxis haben mich motiviert, TADAVI zu gründen –
eine Plattform, die muslimische und kultursensible Psychotherapie zugänglich macht.
Ein Ort, an dem Menschen sich verstanden fühlen dürfen – mit ihrem Glauben, ihren Zweifeln, ihrer Spiritualität.
Wo Therapie nicht versucht, den Glauben zu ersetzen, sondern ihn als Ressource erkennt.

Denn echte Heilung geschieht dort,
wo du dich nicht erklären musst.
Wo du mit all dem da sein darfst, was dich ausmacht –
als Mensch, als Gläubiger, als Suchender.

Levent Yükcü
Mitbegründer von TADAVI

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